Über das Projekt
Worum es geht
Das Projekt untersucht in drei geschichtswissenschaftlichen Einzelprojekten das Alltagswissen von Demokratie, das in der Mehrheitsbevölkerung der Bundesrepublik verbreitet war. Ziel ist es, das Demokratieverständnis der westdeutschen Gesellschaft in seiner Pluralität zu erfassen und das politische Wissen von „den Deutschen“ als umkämpftes, multiperspektivisches und kontextgebundenes Wissen zu erforschen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stand die bundesdeutsche Bevölkerung in besonderem Maße unter politischer Beobachtung. Ihre nationalsozialistische Vergangenheit, die Besatzungskonstellation und die Systemkonkurrenz im Kalten Krieg machten die westdeutsche Gesellschaft zum Experimentierfeld der Demokratieentwicklung und -erziehung. Alliierte Militärregierungen, Politiker:innen, die politische Bildungsarbeit, Publizist:innen, Journalist:innen, Intellektuelle und Sozialwissenschaftler:innen interessierten sich kontinuierlich für den Zustand der jungen Demokratie und damit verbunden auch zunehmend für die politischen Einstellungen ihrer Bevölkerung. Im Rahmen ihrer Deutungen entwarfen diese professionellen Akteure ständig Bilder von „den Deutschen“ und ihrer Haltung gegenüber Politik und Parteien, ihrem Demokratieverständnis, ihrer Partizipationsbereitschaft sowie ihren Einstellungen zur NS-Vergangenheit und zum Autoritarismus.
Diese professionellen Entwürfe fanden Eingang in den öffentlichen Diskurs und kursierten dort als Repräsentationen der westdeutschen Mehrheitsbevölkerung. Was seit den 1950er Jahren von Demoskop:innen als „öffentliche Meinung“ untersucht und verbreitet wurde, war allerdings hochaggregiert und von politikwissenschaftlichen Kategorien durchzogen. Nicht selten provozierten die publizistisch verbreiteten Aussagen deshalb die Reaktionen jener, die sie zu repräsentieren und abzubilden beanspruchten. In Briefen an die Stichwortgeber:innen der öffentlichen Debatte brachten Bürger:innen ihre Zustimmung, häufig aber auch ihr Missfallen über die Deutungsangebote zum Ausdruck.
Unser Ansatz
Während die Zeitgeschichtsforschung ihren Zugang zur Mehrheitsgesellschaft bislang vornehmlich in den Beobachtungen aus Wissenschaft, Publizistik und Politik gesucht hat, nimmt das Projekt „Verborgene Stimmen der Demokratie“ auch die Deutungshorizonte des demokratischen Souveräns in den Blick. Da solche Artikulationen der Bevölkerung in Reaktion auf die Aussagen von „Expert:innen“ entstanden, gilt es diese in einem ersten Schritt aus verschiedenen Perspektiven zu erforschen. Welche Interpretationen des „Volkes“ kursierten in der westdeutschen Medienöffentlichkeit und wie veränderten sie sich im Laufe der Zeit? Bei der Beantwortung dieser Frage geht es vor allem darum, sich aus der Abhängigkeit von den Forschungsergebnissen der im Wandel begriffenen Sozialwissenschaft zu lösen, auf deren Analysen „des Volkes“ die Befunde der Zeitgeschichtsforschung bislang großflächig beruhen. Es ist daher essenziell, geschichtswissenschaftliche Analysebegriffe und Quellengrundlagen neu zu überprüfen.
In einem zweiten Schritt fragt das Projekt „Verborgene Stimmen der Demokratie“ nach dem politischen Selbstverständnis von bundesdeutschen Bürger:innen. Welche alternativen Deutungen, Aneignungen und Resilienzen gegenüber transatlantischen Importen, aktivistischen Impulsen oder erzieherischen Ambitionen im Namen der liberalen Demokratie brachten sie zum Ausdruck? Diese Fragen lassen sich anhand von Briefen aus der Bevölkerung beantworten, denn nicht nur diskursive Stichwortgeber beobachteten die Bürger:innen der Bundesrepublik und legten immer neue Deutungen über sie vor. Vielmehr nahmen die Rezipienten der öffentlichen Debatte diese Einordnungen wahr und reagierten in Zuschriften an Politiker:innen, Journalist:innen und Expert:innen gezielt darauf. Mit Hilfe solcher Antworten kann das Projekt auch jene Mehrheit der Westdeutschen historisch beleuchten, die bislang im Verborgenen blieb.
Die so entstehende Konkurrenzgeschichte zwischen „Experten“ und ihrer massenmedialen Sprechermacht einerseits und nicht-professionellen Akteuren und ihrem Anspruch auf Authentizität andererseits kann darüber hinaus die bislang wenig erforschte „Gatekeeper“-Funktion der Massenmedien vermessen, die professionellen Sprechern den Vorrang gab und die „Stimmen aus dem Volk“ als publizierte Leser- oder Hörerzuschriften wohlbedacht selektierte.